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Die Lieferketten sind nicht irreparabel kaputt

Die Lieferketten sind nicht irreparabel kaputt

Der Unternehmensberater Darya van de Sandt-Nassehi von TMG Consultants ist Experte für globale Lieferketten. Im Interview erklärt er, welche Probleme es gibt, wenn die Industrie die Produktion wieder anfährt und warum es kein Zurück zum Alten geben wird.

 

Capital: Sind die Lieferketten in der Industrie schwer beschädigt oder können sie einfach wieder in Gang gesetzt werden?

DARYA VAN DE SANDT-NASSEHI: Aus unserer Sicht sind die Lieferketten nicht irreparabel kaputt. Der Shutdown war nicht so lang, dass grundlegende Schäden entstanden sind. Wir gehen davon aus, dass es Anfang Mai wieder losgeht. Und in China läuft die Produktion ja bereits seit zwei bis drei Wochen. Die Lieferketten sind da, aber die Versorgung stockt noch. Und es wird mit Sicherheit nach einer kurzen Phase des Anlaufs dazu kommen, dass Industrieunternehmen ihre Lieferketten überdenken werden und fragen: Wo ist ein Risiko eingetreten, wo sind Lieferketten abgebrochen, welche Risiken hätten sie vermeiden können, wenn sie ihre Lieferkette anders strukturiert hätten?

 

Was ist das Risiko beim Wiederanfahren?

Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu dem berühmten Bullwhip-Effekt kommt. Wenn jetzt alle produzieren und Logistik- und Lieferkapazitäten nachfragen, kann es dazu kommen, dass sich auf Lieferantenseite dieser Effekt verstärkt. Konsumenten kaufen wieder. Die Produzenten verkaufen zunächst ihre Lagerware und werden dann schnell die Bestände auffüllen. Sie werden die Produktion aktivieren, die Lager füllen und weiterverkaufen. Wenn Sie diesen Prozess über viele Nachfragestufen zu Lieferanten und Sublieferanten verfolgen, kann es zu Fehleinschätzungen und Überproduktion führen. Bereits kleine Veränderungen der Endkundennachfrage können zu Schwankungen der Bestellmengen führen, die sich zum Ursprung der Lieferkette hin stetig vergrößern.

 

Also werden viele Lieferanten und Produzenten von null auf hundert starten müssen?

Das wird für einige Unternehmen erforderlich sein. Es gibt einige Branchen, die vor der Krise auf einem hohem Nachfragestand waren, bei denen es schlagartig abgebrochen ist und jetzt wieder ebenso schlagartig beginnt. Das trifft auf die produzierende Industrie mit sehr konsumentennahen Produkten zu, nehmen Sie etwa Waschmaschinen. Auch der Dienstleistungssektor wird relativ schnell wieder anspringen – die werden am Jahresende ein Zwölftel oder maximal zwei Zwölftel ihres Jahresumsatzes vermissen. Da geht sofort wieder die Nachfrage hoch.

 

Und die anderen?

Wir gehen von drei unterschiedlichen Szenarien aus. Neben der schnellen Erholung und dem Start „von null auf hundert“ wird es Unternehmen geben, die eine etwas stärkere Delle – mit einem verzögerten Aufschwung – haben werden und am Ende des Jahres unter dem Jahresniveau 2019 herauskommen. Das sind oft Unternehmen, die auch schon vorher mit Nachfrageschwächen zu kämpfen hatten und bei denen jetzt eine gewisse Nachfrage abreißen wird, sei es aus technologischer Sicht, sei es aus Investitionssicht. Solch eine starke Delle wird es bei Autozulieferern geben. Da wird es sich überlagernde Effekte geben aufgrund des technologischen Wandels.

 

Für wen kommt es noch schlimmer?

Eine Rezession wird es sehr stark im Bereich Einzelhandel geben. Das sehen wir jetzt schon, da wird es einige noch umhauen. In Summe wird es die Automobilbranche sehr stark treffen und auch deren Zulieferer aus dem Maschinen- und Anlagenbau.

 

Für alle anderen: Lohnt es sich jetzt schon, die Lager vollzumachen?

Absolut. In vielen Produktlinien wird die Verfügbarkeit die Nachfrage antreiben und nicht der Preis.

 

Wo hakt es in den Lieferketten, wo wird es haken?

Vor allem bereitet fehlende Transparenz Probleme. Informationen über externe Kapazitäten bei Lieferanten sind nicht vorhanden oder schwer einzuholen. Es gibt Unklarheit über Kundenbedarfe, die zudem oft sprunghaft kommen; das ist auch eine Folge der uneinheitlichen Anlaufszenarien von Händlernetzwerken. Fehlende Transparenz über Bestände gibt es entlang der gesamten Lieferkette. Nur weil ich selbst Lagerware habe, heißt es nicht, dass ich für meinen Auftragsbestand genügend Zulieferware habe. Ich muss erst mal mit Lieferanten in Kontakt treten. Es wird einen harten Wettbewerb um die Restbestände von kritischen Komponenten geben. Wir sehen eine sehr hohe Planungsunsicherheit, was die Nachfrage betrifft. Der eine wird Vollgas geben, der andere wird vorsichtig sein. Regionen werden unterschiedlich schnell starten.

 

Wie sieht es innerhalb der Unternehmen aus?

Auch bei der Verfügbarkeit der internen Kapazitäten fehlt es an Übersicht, weil jetzt alles so schnell gehen muss. Das gilt besonders in der Produktion und Logistik, wo sich Kurzarbeit und Arbeitskräfteabbau auswirken. Zudem sind die Zeitkonten der Arbeitnehmer leer, als Unternehmen können Sie nicht mehr flexibel arbeiten. Etliche haben einen sehr hohen Auftragsbestand und müssen jetzt ganz schnell produzieren.

 

Was können Unternehmen tun?

Es wird eine ganz hohe Last auf die Logistikketten kommen und derjenige, der sich jetzt schon einen Vorsprung sichert, wird profitieren. Aus unserer Sicht muss man jetzt sehr aktiv sein: Wer vorher eine Taskforce Corona hatte, sollte jetzt eine Taskforce ramp up management etablieren. Firmen müssen fragen: Welche kritischen Produkte habe ich, welche Produkte gehen gut und dann bei diesen Produkten anschauen: Welche kritischen Lieferanten habe ich in der Lieferkette. Haben die, was ich benötige? Steht meine Logistikkette? Dann kann ich loslegen.

 

Sie beklagen fehlende Transparenz – sollte da nicht längst digitale Technik helfen?

Wir haben in der Logistikbranche das Problem, dass wir sehr fragmentierte Logistiksysteme haben. Wenn Sie als Privatperson online ein paar Schuhe bestellen, können Sie mit einer Liefernummer verfolgen, wo Ihre Ware ist – das gibt’s leider in den globalen Lieferketten kaum. Es fehlen durchgehende Systeme., das ist leider eine Schwäche. Einige Start-ups versuchen, das Ganze zu integrieren und genau diese Transparenz herzustellen, das würde viel bringen.

 

Das heißt, Unternehmen spüren jetzt umso schmerzhafter ihre Mängel.

Das Thema Prozessdigitalisierung und Effizienzsteigerung wird sehr wichtig, gerade im Lichte der Erfahrungen des Shutdown. Aber da wird sich erst einmal zu wenig bewegen, weil die Führungskräfte in den nächsten Wochen operativ an der Front arbeiten müssen. Das ist schade, denn eigentlich hat sich in der Krise gezeigt, dass Sie über nachvollziehbare digitale Prozesse Ihr Unternehmen steuern können. Viele Führungskräfte merken das jetzt: Homeoffices sind für die, die sich schlecht vorbereitet hatten, zu Blackboxes geworden. Für diejenigen Unternehmen, die saubere Prozesse hatten, waren es einfach funktionierende virtuelle Räume.

 

Und die Transportkapazitäten: Wird es teuer, weil sie knapp sind?

Nein, das wird nicht das Problem. Die Container sind ja schon unterwegs aus China. Die Lieferketten sind gefüllt und laufen an.

 

Die Autoproduktion ist besonders komplex. Wird es da besonders schwierig?

Es gibt keine Branche, die so fragmentiert und vernetzt ist, wie die Automobilbranche. Die Wertschöpfungstiefe des Herstellers, der das Auto verkauft, ist sehr gering. Das ganze Zuliefernetzwerk muss systematisch wieder angefahren werden. Ganz wichtig ist die Frage, wer in dem Netzwerk schon umgefallen ist. Man hat in den letzten Wochen da schon einige Insolvenzen gesehen, eher bei den kleineren und mittleren. Wir erwarten hier einen Nachfragerückgang von 10 bis 15 Prozent. Der wird sich wahrscheinlich auf absehbare Zeit nicht erholen. Da sind zwei Effekte: Das eine ist der technologische Wandel, das andere ist: Auch durch diese Krise ist die Mobilität zurückgegangen. Man wird daraus lernen und andere Mobilitätslösungen und reduziertere Mobilität wieder einführen. Und bis die Sicherheit wiederkommt, die für Nachfrage sorgt, wird es noch dauern. Jemand, der sich vor vier Wochen ein Auto kaufen wollte, wird sich nicht unbedingt in vier Wochen eines kaufen. Die Zurückhaltung wird bleiben.

 

Dabei sollte die verzweigte Struktur doch den Autoherstellern Flexibilität bringen?

Zu der ohnehin fragmentierten Automobilkette kommt noch das ganze Thema just in time hinzu, der Anspruch nach Liefergenauigkeit ohne Lagerbestände, ein System, in dem man versucht, das working capital extrem gering zu halten. Da wieder die Mindestlagerbestände anzusammeln, erzeugt eine enorme Verzögerung im System. Die meisten haben ja nicht wegen Corona aufgehört, sondern weil die Lagerbestände fehlten. Ein System, das so auf Abhängigkeiten ausgelegt ist, braucht unglaublich lange, um wieder richtig zu funktionieren.

 

Wie lange wird es dauern, bis das System Autoproduktion wieder läuft?

Das wird vier bis acht Wochen dauern. Wir sehen bei den Führungskräften eine extrem hohe Nervosität. Ich höre von sehr vielen: Wenn man im Mai nicht loslegen darf, entstehen irreparable Schäden.

 

Auch vor Corona war das Zuliefersystem fragil. Wird sich da, etwa bei der Wertschöpfungstiefe grundsätzlich etwas ändern (müssen)?

Da bin ich sicher, dass sich die Art des Zusammenarbeitens ändern wird, schon alleine aufgrund des wirtschaftlichen Drucks. Weil Kapitalkosten extrem gering waren und Geld nichts gekostet hat – und das wird ja so bleiben – hatten wir einige Zombie-Unternehmen, die in einer normalen Geldwirtschaft nicht mehr existieren würden. Da wird es nun eine Auslese geben.

 

Wer sind die Konsolidierer, sind das die Großen wie Bosch, Conti, Schaeffler, ZF?

Ja, aber es können auch große, gesunde Mittelständler sein, die im Zuge der Lage Wettbewerber aufnehmen. Im Augenblick gilt: Cash is king und über diese Barmittel verfügen ja einige von denen, die gut gewirtschaftet haben.

 

Andersrum hat das Gesamtsystem davon profitiert, dass alles auf Kante genäht war. Muss es jetzt teurer werden, wenn es sicherer wird?

Nein, das können sich die Unternehmen nicht erlauben.

 

Was wären – auch für andere Branchen – Möglichkeiten, aus Corona zu lernen?

Unter anderem sollten die Firmen ihre indirekten Funktionen im Unternehmen beleuchten. Und sie sollten die Lehren aus den Homeoffices und der Digitalisierung nutzen, da gibt es noch viele Potenziale. Das sehen viele Führungskräfte jetzt erst – im Homeoffice. Als nun direkt Betroffene spüren sie die Mängel bei der IT oder fehlenden Zugriff auf Mitarbeiter sofort und unmittelbar. Jetzt endlich machen sie sich ernsthafte Gedanken über ihre Geschäftsprozesse, weil sie plötzlich Betroffene sind.

 

Wird die Neuorganisation von Lieferketten erst ein Thema, wenn der Anfahr-Stress vorbei ist?

Die Erkenntnisse aus dieser Krise hatten, dürfen wir nicht vergessen, nur weil jetzt vielleicht wieder etwas Normalität eintritt. Ein Zurück zum Alten wird es nicht geben. Diejenigen, die aus dieser Krise gelernt haben, wie sie ihre Geschäftsprozesse optimieren können, die werden einen Vorteil haben. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor in dieser Krise war Transparenz über Geschäftsprozesse und Lieferketten. Wenn ich es schaffe, meine Lieferketten so zu organisieren, dass ich Transparenz über die Volumina habe und diese Transparenz in mein Unternehmen überführe, dann bin ich auch für die nächste Krise gewappnet.

 

Dieser Artikel ist am 21. April 2020 auf Capital.de erschienen.

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